"Von der Religion" (Khalil Gibran)

  • Guten Morgen miteinander! :sieg:
    Diesen Text möchte ich Euch nicht vorenthalten.


    Euch allen einen wunder-vollen Tag! Manfred.


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    Und ein alter Priester sagte: Sprich uns von der Religion.
    Und er antwortete: Habe ich heute von etwas anderem gesprochen? Ist nicht jede Tat und jede Betrachtung Religion? Und ist sie nicht gleichzeitig weder Tat nochNachdenken, sondern ein Wunder und eine Überraschung, die ewig der der Seele entspringen, selbst während die Hände den Stein behauen oder den Webstuhl bedienen?
    Wer kann seinen Glauben von seinen Taten trennen oder seinen Glauben von seinen Tätigkeiten? Wer kann seine Stunden vor sich ausbreiten und sagen: "Dies ist für [lexicon='Gott'][/lexicon] und dies für mich, dies für meine Seele und dies für meinen Körper?" All eure Stunden sind Flügel, die von Ich zu Ich durch den Raum gleiten.
    Wer seine Sittlichkeit bloß als sein bestes Gewand trägt, wäre besser nackt.
    Der Wind und die Sonne werden keine Löcher in seine Haut reißen. Und wer seinen Lebenswandel durch die Sittenlehre begrenzt, sperrt seinen Singvogel in einen Käfig.
    Das freieste Lied dringt nicht durch Gitter und Draht. Und wem die Andacht ein Fenster ist, das man öffnet und schließt, der hat noch nicht das Haus seiner Seele besucht, dessen Fenster von Morgenröte zu Morgenröte reichen.
    Euer tägliches Leben ist euer Tempel und eure Religion. Wann immer ihr ihn betretet, nehmt alles mit, was ihr habt. Nehmt den Pflug und den Amboss und den Hammer und die Laute, die Dinge, die ihr aus Notwendigkeit oder zur Freude geschaffen habt. Denn in euren Tagträumen könnt ihr euch nicht über eure Leistungen erheben und auch nicht tiefer fallen als eure Misserfolge. Und nehmt mit euch alle Menschen, denn in der Anbetung könnt ihr nicht höher fliegen als ihre Hoffnungen und euch nicht tiefer erniedrigen als ihre Hoffnungslosigkeit.
    Und wenn ihr Gott erkennen wollt, bildet euch deshalb nicht ein, die Rätsel lösen zu können. Schaut lieber um euch, und ihr werdet sehen, wie Er mit euren Kindern spielt. Und schaut in den Raum, ihr werdet sehen, wie Er in der Wolke geht und seine Arme im Blitz ausstreckt und im Regen herabsteigt. Ihr werdet sehen, wie Er in den Blumen lächelt, aufsteigt und aus den Bäumen winkt.


    Khalil Gibran

  • Danke Manfred, Khalil Gibran hat mir schon immer gefallen. Eines meiner Lieblings Zeilen sind auch diese:
    Eure Kinder sind nicht eure Kinder. Sie sind die Söhne und Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selber. Sie kommen durch euch, aber nicht von euch. Und obwohl sie mit euch sind, gehören sie Euch doch nicht. Ihr dürft ihnen eure Liebe geben, aber nicht Eure Gedanken. Denn sie haben ihre eigenen Gedanken. Ihr dürft ihren Körpern ein Haus geben, aber Nicht ihren Seelen. Denn ihre Seelen wohnen im Haus von morgen, Das ihr nicht besuchen könnt, nicht einmal In euren Träumen.


    Ihr dürft euch bemühen, wie sie zu sein; Aber versucht nicht, sie euch ähnlich zu machen. Denn das Leben läuft nicht rückwärts, noch Verweilt es im Gestern. Ihr seid die Bogen, von denen eure Kinder als Lebende Pfeile ausgeschickt werden. Der Schütze sieht das Ziel auf dem Pfad der Unendlichkeit, und Er spannt euch mit Seiner Macht, damit seine Pfeile schnell und Weit fliegen. Lasst euren Bogen von der Hand des Schützen auf Freude gerichtet sein. Denn so wie Er den Pfeil liebt, der fliegt, So liebt Er auch den Bogen, der fest ist.


    Khalil Gibran: Der Prophet


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    Das Ende der Zeilen kenn ich in verschiedenen Variationen.....gibt da wohl diverse Interpretationen....


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    Und ein Mann sagte: Sprich uns von der Selbsterkenntnis.
    Und er antwortete und sagte: Eure Herzen kennen im stillen die Geheimnisse der Tage und Nächte. Aber eure Ohren dürsten nach den Klängen des Wissens in euren Herzen. Ihr wollt in Worten wissen, was ihr in Gedanken immer gewusst habt. Ihr wollt mit den Händen den nackten Körper eurer Träume berühren. Und das ist gut so.
    Die verborgenen Quelle eurer Seele muss unbedingt emporsteigen und murmelnd zum Meer fließen, und der Schatz eurer unendlichen Tiefen möchte euren Augen offenbart werden. Aber wiegt den unbekannten Schatz nicht mit Waagschalen. Und erforscht die Tiefen eures Wissens nicht mit Messstock oder Senkschnur.
    Denn das Ich ist ein Meer, grenzenlos und unermesslich. Sagt nicht: "Ich habe den Pfad der Seele gefunden." Sagt lieber: "Ich habe die Seele auf meinem Pfad wandelnd getroffen." Denn die Seele wandelt auf allen Pfaden.
    Die Seele wandelt nicht auf einer Linie, noch wächst sie wie ein Schilfrohr. Die Seele entfaltet sich wie eine Lotosblume mit zahllosen Blättern.Khalil G.

  • Danke für diese Texte, Sandra!
    Sie zeugen von wirklicher Weisheit.


    Alles Liebe,
    Manfred.