Guten Morgen miteinander!
Diesen Text möchte ich Euch nicht vorenthalten.
Euch allen einen wunder-vollen Tag! Manfred.
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Und ein alter Priester sagte: Sprich uns von der Religion.
Und er antwortete: Habe ich heute von etwas anderem gesprochen? Ist nicht jede Tat und jede Betrachtung Religion? Und ist sie nicht gleichzeitig weder Tat nochNachdenken, sondern ein Wunder und eine Überraschung, die ewig der der Seele entspringen, selbst während die Hände den Stein behauen oder den Webstuhl bedienen?
Wer kann seinen Glauben von seinen Taten trennen oder seinen Glauben von seinen Tätigkeiten? Wer kann seine Stunden vor sich ausbreiten und sagen: "Dies ist für [lexicon='Gott'][/lexicon] und dies für mich, dies für meine Seele und dies für meinen Körper?" All eure Stunden sind Flügel, die von Ich zu Ich durch den Raum gleiten.
Wer seine Sittlichkeit bloß als sein bestes Gewand trägt, wäre besser nackt.
Der Wind und die Sonne werden keine Löcher in seine Haut reißen. Und wer seinen Lebenswandel durch die Sittenlehre begrenzt, sperrt seinen Singvogel in einen Käfig.
Das freieste Lied dringt nicht durch Gitter und Draht. Und wem die Andacht ein Fenster ist, das man öffnet und schließt, der hat noch nicht das Haus seiner Seele besucht, dessen Fenster von Morgenröte zu Morgenröte reichen.
Euer tägliches Leben ist euer Tempel und eure Religion. Wann immer ihr ihn betretet, nehmt alles mit, was ihr habt. Nehmt den Pflug und den Amboss und den Hammer und die Laute, die Dinge, die ihr aus Notwendigkeit oder zur Freude geschaffen habt. Denn in euren Tagträumen könnt ihr euch nicht über eure Leistungen erheben und auch nicht tiefer fallen als eure Misserfolge. Und nehmt mit euch alle Menschen, denn in der Anbetung könnt ihr nicht höher fliegen als ihre Hoffnungen und euch nicht tiefer erniedrigen als ihre Hoffnungslosigkeit.
Und wenn ihr Gott erkennen wollt, bildet euch deshalb nicht ein, die Rätsel lösen zu können. Schaut lieber um euch, und ihr werdet sehen, wie Er mit euren Kindern spielt. Und schaut in den Raum, ihr werdet sehen, wie Er in der Wolke geht und seine Arme im Blitz ausstreckt und im Regen herabsteigt. Ihr werdet sehen, wie Er in den Blumen lächelt, aufsteigt und aus den Bäumen winkt.
Khalil Gibran