Eine Weisheitsgeschichte für dich, die mich sehr berührt. Ich musste sie ein paar mal in aller Ruhe lesen und mir vorlesen lassen, bis ich mit meinem Herz und Verstand die Botschaft verstanden habe und beherzigen konnte. Auf eine Deutung verzichte ich bewusst. Vielleicht spricht dich diese Geschicht im Herzen und Verstand an ...
Irgendwo in einer Wüste treffen sich Sokrates und Prinz
Siddharta.
"Du bist auch hier?", fragte ihn Sokrates.
"Sieh", antwortete Prinz Siddharta,
"siehst du es?" Staunend gingen beide auf eine etwa fussballgrosse Eiskugel
zu und blieben vor ihr stehen. "Was ist das", fragte Sokrates, worauf
Prinz Siddharta antwortete: "Das ist Sokrates, das ist alles." Der Prinz
lachte und war voller Freude. Sokrates aber berührte die Kugel. "Sie ist
sehr kalt, sie ist gefroren. Wie kann inmitten dieser Gluthitze eine Eiskugel
sein?" Siddharta antwortet lachend, fast grossväterlich, dem verwirrten
Sokrates: "Sokrates, was du siehst, ist wie Eis und was du fühlst, ist wie
Glut, doch was vor dir liegt, ist wie du. Alles ist wie du." Nach ein paar
Minuten etwa sagte Sokrates zu Siddharta: "Siddharta, Göttliches ist in dir.
Ich habe verstanden, was du gesagt hast. "
Prinz Siddharta legte seine Handflächen zusammen, schloss
seine Augen und sass einfach da. Dann sagte er: "Sokrates, ich war vor langer
Zeit an einem Ort, an dem es sehr sehr kalt war. Überall waren riesige Berge gefrorenen
Wassers. Nichts war dort - ausser mir. Dort geschah es. Ich sah am Horizont
flackerndes Licht. Doch als ich näherkam, wurde mir klar, dass es ein Feuer
war. Es war so gross wie diese Eiskugel. Nichts und niemand war zu sehen. Ich
wärmte mich an dem Feuer, denn mir war sehr kalt. Das Feuer brannte und
brannte. Dann kam Sturm auf und ich konnte weder meine Hand noch das Feuer
sehen. Als der Sturm sich gelegt hatte, brannte das Feuer noch immer. Es war
weder kleiner geworden, noch war es mit brennbarem Material versorgt. Nichts
war zu sehen. Es war nur ein Feuer ohne Holz. Niemand hatte es entzündet. Dann
bin ich wieder gegangen. Und heute bin ich hier.
Jeder sagt, es sei unmöglich inmitten einer Wüste eine Eiskugel
zu sehen, die nicht schmilzt. Es sei ebenfalls unmöglich inmitten einer Eiswüste
ein Feuer zu sehen, das nichts und niemand zum Erlöschen bringen kann, und doch
gibt es beides. Sokrates fragt sich, warum. "Ja", entgegnete
Sokrates, "sind wir verrückt oder haben wir eine Halluzination?"
Prinz Siddharta erwiderte: "Ich bin erwacht und habe durch dein
"Warum" nun das Auge des Herzens in mir, du hast mein
Auge geboren. Ich bin Gautama Buddha, der Buddha. Ich werde dir jetzt davon
erzählen, dass dein Warum nicht ist."
Sokrates starrte den Buddha wissbegierig an und nahm
alles in sich auf.
"So wie alles wieder auf die Erde fällt, so ist es
mit dem Leben auch, es ist überall, gleichsam einer Energie, die im ganzen
Universum, wie du es nennst, existiert. Alles ist gefüllt mit Lebensenergie.
Sokrates, nach deiner Lehre kann es nicht sein, dass in einer Eiswüste von
selbst ein zeitloses Feuer lebt, aber es lebt. Die Erde ist im Vergleich zu
deinem Universum ein Feuer. Im Weltall ist es so kalt, dass dein warmer Körper
dort schneller gefrieren und zerbrechen würde, als ich auch nur einen Laut von
mir geben könnte. Trotzdem: Am Anfang war dieser Klumpen, ein riesiges glühendes
Staubkorn. Mache dir sein Werden klar, Sokrates! Die Eiskugel, die vor uns liegt,
steckt voller Leben, deswegen kann sie sein, und ebenso kann ein Feuer in einer
Eiswüste sein. Deswegen ist Sokrates Sokrates. Der Mensch steckt so voller
Einbildung und verschulter Bildung, dass er gar nicht mehr erkennt, dass das
Auge des Herzens ihn bildet. Dies ist sein Elend.
Sokrates, du spürst das jetzt, was Leben ist. Es ist in
der ganzen Welt und Du bist ein Teil dieser Welt. Es ist in dir. Es ist eine
Kraft, eine Energie, die alles befreit, was die Menschen ,,das kann nicht
sein" nennen. Du hast gesagt: "Ich weiss, dass ich nichts weiss."
Ich sage, lehre die Menschen ihr Auge im Herzen zu
erkennen, damit sie wissen, was sie nicht zu wissen brauchen. Das Leben findet
immer einen Weg. Du weisst auch dieses: Ein Vogel der so klein ist, dass er in
deine Hände passt, überlebt einen kalten Winter mit wenig Nahrung und vielen
Feinden. Das Leben, das in ihm ist, ist viel viel grösser als der kleine Vogel,
deswegen überlebt dieser Vogel. Ob der Vogel das weiss, ist unerheblich, viel
schamvoller ist, dass der Mensch sich seiner wahren Kraft nicht bewusst wird
und nach ihr strebt. Eher strebt er nach dem, was er heute bekommt. Du weisst
jetzt, Sokrates, dass wir so sind wie diese Erde, und dass diese Urkraft der
Erde ein Gesicht gegeben hat, dir einen Namen und dem Universum seine zeitlose
Entfaltung und Grösse.
Alles vergeht, nichts hat Bestand, heisst in
Wirklichkeit, dass alles ewig währt; Sokrates und der Buddha." Sokrates
konnte sich nicht zurückhalten und sprach hastig zum Buddha: "Du sagst,
die Sonne wärmt die Erde nicht?!" "Sieh selbst", entgegnete
Buddha. Sokrates setzte sich in den Wüstensand und dachte: Wenn der Buddha
sagt, dass die Sonne die Erde nicht wärmt..., plötzlich schrieb Sokrates mit
seinem Finger etwas in den Sand:
DIE ERDE WAR EIN KLUMPEN STERNENSTAUB. WIE EIN BABY
BEMÜHTE SIE SICH UND WANDTE SICH DER SONNE ZU. DIE ERDE ENTWICKELTE EINE
WÄRMESAUGENDE OBERFLÄCHE WEIL SIE IST WIE SOKRATES, DEM KALT IST UND DER SEINE
KLEIDER TRÄGT. DIES IST DIE URKRAFT, DIE NUR JEMAND ERKENNT, DER DURCH DAS AUGE
DES HERZENS SIEHT. DIESE IST SCHÖPFUNGSKRAFT IN ALLEM: ALLES IST
WIE SOKRATES UND DER GAUTAMA BUDDHA.
Der Buddha berührte Sokrates' Hand, dabei schaute er
liebevoll und zufrieden und sagte: "Jetzt ist Sokrates ein lebendiges
Wesen. Du wirst immer sein. Fortan und ewig ist ein Tag. Du bist sein
Wesen."
"Das Universum ist wie ein Herz. Es schaut uns mit
seinem riesigen Auge fortwährend an. Ich weiss, dass ich nichts weiss, wenn ich
nicht sehe, was das Auge mir zu sagen hat", sagte Sokrates.
Der Buddha atmete tief ein und schaute zum Mond:
"Sieh ... , siehst du es?", dabei schloss der Buddha seine Augen, um
mit seiner Meditation zu beginnen. Sokrates entgegnete respektvoll und leise,
"Gautama, wie viele Sterne, wie viele Augen, wie viele Herzen!"
© aus: Rüdiger Lenz | Nichtkampf