Die Menschheit zerstört nicht nur ihre Umwelt, sondern nach
und nach auch ihre Innenwelt.
Die
Umweltproblematik, insbesondere die Klimakatastrophe, ist vermehrt ins
allgemeine Bewusstsein gedrungen. Allmählich erfassen wir die Dimension der
weltweiten Umweltschäden, tun uns aber weiterhin schwer damit, unser
zerstörerisches Verhalten zu ändern. Im Gegenteil, wir reagieren auf die
beängstigenden Untergangsszenarien mit einem suizidalen Reflex — der digitalen
Dekadenz. Der Umweltverschmutzung entspricht eine selbstzerstörerische
Innenweltverschmutzung. Durch Anpassung an eine selbst geschaffene Maschinenwelt,
vollzieht sich eine vorher nie da gewesene emotionale Verarmung. Der Computer gewinnt, was der Mensch verliert.
Es ist eine paradoxe Reaktion: Die unbewusste verbannte Angst vor dem Tod verwandelt sich in einen masslosen Lebenshunger, der in die Selbstzerstörung führt. Der verdrängte Tod ist nicht nur mitverantwortlich für so manches persönliche Problem, sondern auch für gesellschaftliche Fehlentwicklungen. Ein Beispiel: unsere technokratische Vermessenheit. Da ist doch wirklich eine Atomuhr entwickelt worden, die in 13,8 Milliarden Jahren, dem geschätzten Alter des Universums, weniger als eine Sekunde vor- oder nachgehen soll. Wenn die Menschheit von der Bildfläche des Planeten verschwunden sein wird — spätestens nach dem Erkalten der Sonne —, könnte die Uhr noch weiterticken …
Die Angst ist die Unruh der Zeit. Sie ist der Antrieb zu einem Grossteil menschlicher Handlungen. Sie liegt Religion, Philosophie, Politik, Wissenschaft und Wirtschaft zugrunde, ja selbst der Kunst.
Und da sie ein schlechter Berater ist, schlittern wir von einer Krise, von einer Katastrophe in die nächste. Die Geschichte kommt mir vor wie ein gigantischer Staffellauf — die Generationen sind die Läufer und der Stab, der weitergegeben wird, ist die Angst. Und die Läufer glauben unverdrossen an Fortschritt und stetes Wachstum. Diese Unverdrossenheit ist die Maske der Angst.
Kultur ohne Werte
Der
„kulturelle Genozid“, von dem Pier Paolo Pasolini (ein sehr bekannter ital. Filmemacher) schon in den 1960er-Jahren sprach, hat sich auf alle gesellschaftlichen Schichten
und Bereiche ausgeweitet. Die Globalisierung hat die kulturelle Ausmerzung
eingeleitet. Der Kommerz siegt, die Kunst schwindet, die Kultur und ihre Werte
liegen in der Agonie. Wir sind alle sterbenskrank, unsere Seelen gehen
zugrunde. Die Identität des Menschen weicht dem Diktat der globalisierten
Wirtschaft, sie wird pulverisiert unter dem Hammer der Rationalisierung. Das
Ich unterliegt dem Wir einer selbstmörderischen Weltordnung, die im Krieg gegen
die Natur wahnhafte Züge annimmt.
Die
Globalisierung ist ein entfesselter Kapitalismus. Die globalisierte
Gesellschaft ist eine Dreizimmerwohnung: dekadente Erste Welt, skrupellose
Zweite Welt, krepierende Dritte Welt. Deregulierung und Profitmaximierung triumphieren, die
politischen Machtsysteme sind weitgehend der Diktatur des Marktes gewichen. Es
werden keine Kriege mehr erklärt,
sondern Banken gegründet. An die Stelle des Militärs ist die Börse getreten,
Makler haben die Soldaten ersetzt. Heute
wird nicht mehr mit der Waffe getötet, sondern mit Geld.
Der
Kapitalismus macht aus dem Menschen, das heisst der Arbeitskraft, ein Wesen auf
der Stufe der Maschine. Der Neoliberalismus bevorzugt die Maschine und setzt
alles daran, die Arbeitskraft abzuschaffen. Kapitalismus und Neoliberalismus
entmündigen den Menschen und entledigen sich seiner mit Hilfe der Maschine. Stichwort Automatisierung auf Basis von Big Data und
Künstlicher Intelligenz.
Maschine gegen Seele
Auf die Kommerzialisierung des Alltags folgt im digitalen Zeitalter die Kommerzialisierung des Menschen. Diese findet in der elektronischen Revolution ihren (vorläufigen) Höhepunkt. Die Digitalisierung des Alltags um der persönlichen Daten willen gipfelt in der Digitalisierung der menschlichen Seele.
Die digitale Revolution erschafft den Giga- und Überwachungskapitalismus. Die digitale Gigantomanie perfektioniert die Ausbeutung der Erde, sie zerstört die physische Natur. Die digitale Überwachung perfektioniert die Ausbeutung des Menschen, sie zerstört die psychische Natur. Das Internet, wirksamstes Instrument des Giga- und Überwachungskapitalismus, ist eine Verstandesdroge. Seine Algorithmen bekämpfen die Individualität — sie manipulieren die Freiheit, fesseln das Soziale, zersetzen den Geist und münden schliesslich in die digitale Unmündigkeit. Hilflos zappeln wir im World Wide Web, dem feinmaschigen Netz einer Spinne, die uns mit klebrigen Fäden fesselt. Die Spinne heisst Dekadenz.
Computer machen ihn asozial und im speziellen Fall autistisch. Ihre Algorithmen machen ihn abhängig und im speziellen Fall süchtig.
Die Computer beherrschen den Menschen. Der entfremdet sich seiner Empfindung und verliert den Bezug zur (sozialen) Wirklichkeit. In der virtuellen Isolation verliert der Mensch sich selbst und wird zum Homo suizidens, zum Menschen, der sich selbst zerstört.
Digitaler Wahn
Dies
ist die Diktatur der Spasskultur: Digitalisierung des Berufes, Virtualisierung
der Freizeit, E-Mailisierung der Kommunikation
und Cyberisierung
der Sexualität. Dies ist die Selbstentfremdung! Wir verrohen und verlieren
langsam die Fähigkeit, Dinge differenziert zu sehen. Wir denken in Klischees,
handeln nach gängigen Verhaltensmustern und erliegen allen erdenklichen Täuschungen.
Werte
werden belächelt, weil sie nicht mehr erkannt, geschweige denn geteilt werden.
Die Möglichkeit, eigene Ideen und Gedanken zu entwickeln, wird nicht mehr genutzt.
Die
zunehmende digitale Durchdringung unseres Alltags führt zur Entfremdung der
Empfindung und letztlich in die Selbstzerstörung.
Es
geht um unsere beeinträchtigte Wahrnehmung der verschwindenden Wirklichkeit. Es
geht darum, wie wir mit Computern das Sein zerstören, indem wir das Reelle
durch das Virtuelle ersetzen. Die
Zerstörung des Seins
vollzieht sich in drei
Schritten:
Erster Schritt:
Die Produktion (Sein,
Original, Wirklichkeit) Der
Computer verstärkt,
beschleunigt und bestimmt: Beruf, Privatleben, Kommunikation und Medien, Produktionsmittel, Gewinnung und Verarbeitung von
Rohstoffen, Handel, Börsen und Kapitalfluss, Nahrungsmittel, öffentliche
Dienste, Medizin, Überwachung durch Geheimdienste und so weiter.
Zweiter Schritt:
Die Reproduktion (Illusion, Kopie, Künstlichkeit) Der Computer verändert, vervielfältigt und verfälscht: Nanotechnologie, pränatale Diagnostik, Klonen, gentechnisch optimierte Nahrungsmittel, militärische Drohnen, künstliche Intelligenz und so weiter.
Dritter Schritt:
Die Rezeption (Wahrnehmung, Vorstellung, Wahn) Der
Computer täuscht, verwirrt und zerstört: digitale Erstarrung, Entfremdung der
Empfindung, gestörte Wahrnehmung, Bewegung in virtuellen Welten, Verlust der
Wirklichkeit, Wahnvorstellungen, Selbstzerstörung.
Widerstand gegen die Spinne
Hinter
den Computern sitzen Informatiker, die sie programmieren. Wir können die
Verantwortung nicht an die Maschinen delegieren. Nicht wenige haben das begriffen und leisten Widerstand gegen den digitalen
Wahn. Die Mutigsten unter ihnen sind die Whistleblower: Datendiebe, die es mit
ihren Enthüllungen fertigbringen, den Verlust der Wirklichkeit hinauszuzögern. Leute wie die ehemalige Gefreite „Bradley“
Chelsea Manning, sie spielte WikiLeaks Hunderttausende von geheimen Dokumenten und Aufnahmen der
U.S. Army aus
dem Irakkrieg zu. Darunter ein Video, das irakische Zivilisten zeigte, die aus einem Kampfhubschrauber heraus beschossen wurden.
Was wie
ein blutiges Videospiel aussah, war grausame Wirklichkeit. Manning wurde sofort verhaftet. Im Prozess sagte sie aus, sie habe den „Blutrausch“ der Soldaten
aufdecken und eine öffentliche Debatte über deren Angriffe und Motive auslösen
wollen. Vom Gericht zu 35 Jahren Haft verurteilt, verbüsste sie ihre Strafe im
Militärgefängnis von Fort
Leavenworth im Bundesstaat Kansas. Die
Gefangene verbrachte täglich
23 Stunden in einer kleinen
Zelle und durfte nur eine
Stunde mit Fussschellen zum Freigang. Ihr Essen musste sie allein einnehmen,
eine Stunde pro Tag durfte sie fernsehen. Sie hatte kein normales Kopfkissen,
auch ihre Decken waren aus einem speziellen Material, das nicht zerrissen werden
kann. Mannings Haftbedingungen waren menschenverachtend.
Durch
einen Gnadenerlass des abtretenden US-Präsidenten Obama kam sie 2017 vorzeitig
frei, bevor sie im März 2019 erneut festgenommen wurde.
Ein anderer
Whistleblower, der US-Agent Edward Snowden, deckte den ausufernden Überwachungsstaat
auf. Heute weiss auch der letzte Zweifler, dass
George Orwells „Big
Brother is watching you!“ kein Hirngespinst ist.
Google, Yahoo, Facebook und andere Firmen arbeiten mit der US-Regierung zusammen und gewähren
ihr den Zugriff
auf all ihre Daten. Es wird gemunkelt, dass in den iPhones von Apple Wanzen
eingebaut seien … Snowden flüchtete vor der amerikanischen Justiz
nach Russland, wo er politisches Asyl beantragte und erhielt. Er sagte zu Medienvertretern:
„Ich sehe mich nicht als Held, weil
ich aus eigenem
Interesse handle. Ich will
nicht in einer Welt leben, in der es keine Privatsphäre gibt und wo kein Raum ist für intellektuelle Abenteuer und Kreativität.“
Die
Enthüllungsplattform WikiLeaks ist das Sprachrohr des Widerstands gegen den
globalisierten Zynismus, der dank des Computers eine so starke Verbreitung
erfährt und dessen Wirkung darum so verheerend ist. Whistleblower wie
die kürzlich verhafteten Chelsea Manning
und Julian Assange, wie Edward Snowden, Glenn Greenwald, Laura Poitras,
Phil Hammond und Aaron Swartz
sind die wahren Revolutionäre des digitalen Zeitalters.
Ökologie oder Selbstmord
"Was immer mit den Tieren geschieht, geschieht bald auch mit den Menschen. Alle Dinge sind miteinander verbunden. Was die Erde befällt, befällt auch die Söhne und Töchter der Erde.“
Das war die Botschaft des indianischen Häuptlings Seattle an den amerikanischen Präsidenten im Jahr 1855. Häuptling Seattle hatte eine Vision. Seine Botschaft war und ist höchst aktuell. Was der nordamerikanische Indianer voraussah, ist eingetreten. Das Schicksal der Natur ist das unsere. Was sich im Grossen vollzieht, im Makrokosmos, vollzieht sich auch im Mikrokosmos: Wir blasen Giftstoffe in die Atmosphäre und leiden an den Folgen der Klimaerwärmung. Wie wir mit der Natur umgehen, so geht die Natur mit uns um.
Der Homo suizidens — ein hoffnungsloser Fall? Ein schwieriger Fall, aber kein hoffnungsloser. Ein Umdenken findet statt. Ob uns allerdings genügend Zeit bleibt, das Steuer herumzureissen, bevor die digitale Festgesellschaft auf dem bunt geschmückten Schiff den Wasserfall erreicht, weiss ich nicht.
Nero hat Rom angezündet und die Tat den Christen vorgeworfen. Hitler hat den Reichstag in Schutt und Asche gelegt und die Juden dafür verantwortlich gemacht. Wir brennen den Regenwald nieder und rechtfertigen es mit dem Fortschritt. Rom ist untergegangen, das Dritte Reich wurde besiegt.
Stellen wir weiterhin eine wertfreie Wissenschaft über die Ethik, ein blindes Wachstum über die Vernunft, werden wir uns selbst auslöschen.