Lesetipp Drei Sichten auf die Erschaffung des Universums

Auszug aus dem Buch "Leben in der Multirealität" von Swami Vishnudevananda Giri


Im Advaita Vedanta existieren drei philosophische Schulen und drei Theorien, die das Weltbild, passend zum Verständnis der menschlichen Wesen, beschreiben.


Die erste Theorie heißt Srishti-Drishti-Vada oder „Theorie der allmählichen Schöpfung“. Die zweite Theorie lautet Drishti-Srishti-Vada oder „Theorie der plötzlichen Erschaffung des Universums“. Schließlich gibt es eine dritte, höchste Theorie, Ajati-Vada, oder „Theorie der Nicht-Schöpfung und Nicht-Ursächlichkeit“.

Ajati-Vada gilt als die höchste und die Theorie der allmählichen Schöpfung gilt als die niedrigste. In Abhängigkeit von den Fähigkeiten eines Schülers beherrscht er zunächst die erste Theorie, dann die zweite und schließlich geht er zu der höchsten über. Unsere Weltanschauung und unser spiritueller Pfad sind vom Grad des Verständnisses der Existenz des Universums, der Zeit und des Raumes abhängig.


Theorie der allmählichen Schöpfung


Die erste Theorie, die Theorie der allmählichen Schöpfung (Srishti-Drishti-Vada), ist eine gewöhnliche, allgemein anerkannte Theorie über die physische Erschaffung des Universums. Sie besagt, dass die Zeit von der Vergangenheit in die Zukunft fließt, dass das Universum aufgrund einer großen Explosion geboren wurde, und dass im Universum lineare Verbindungen zwischen Subjekt und Objekt sowie Ursache und Wirkung bestehen. Diese erste Theorie (die Theorie der allmählichen Schöpfung) deckt sich völlig mit dem heutigen wissenschaftlichen Bild der physischen Welt, und deswegen werden wir sie nicht weiter betrachten.


Vom Standpunkt der allmählichen Schöpfung wird das Universum erst erschaffen und dann zerstört, und es existiert in bestimmten sehr großen Zeiträumen (Kalpas und Yugas). Die Lebewesen entwickeln sich planmäßig in ihrer Evolution, indem sie verschiedene Stadien vom Stein, vom Mineral, niedersten Wesenheiten, Tieren, Menschen bis zu Göttern, großen Göttern, die Universen erschaffen (Brahmas) solange durchlaufen, bis sie sich mit dem Absoluten vereinigen. Das ist eine allgemein anerkannte Theorie, die durch Puranas wie Ramayana und Mahabharata gestützt wird. Ein allgemein anerkannter Standpunkt des Yogas für Anfänger. Aber auf einer höheren Stufe sagen die Heiligen, dass diese Theorie in dem Sinne nicht korrekt ist. Dass sie nur zu einem bestimmten Grad richtig ist und die Theorie der plötzlichen Erschaffung des Universums der Realität näher kommt.


Spiegelungen eines Kristals. Multidimensionalität des Bewusstseins


Wenn man hört, dass es mehrere Schöpfungstheorien des Universums gibt, fragt man sich, wie sie gleichzeitig existieren können: Ist die eine richtig, muss die andere falsch sein. Aber so ist es nicht. Die Welt ist ein viel höheres und komplexeres Sein. Sie gleicht einem Kristall mit mehreren Facetten. Es existieren Welten, auf welche die Theorie der allmählichen Schöpfung zutrifft. Und auch solche, wo sie vollkommen falsch ist. Das gleicht dem Drehen eines Kristalls, auf den ein Lichtstrahl gerichtet ist. Dann wird der Kristall in Abhängigkeit vom Lichteinfall verschiedene Bilder projizieren.


Die höhere Theorie der Schöpfung des Universums heißt Drishti-Srishti-Vada (Theorie der plötzlichen Erschaffung des Universums). Vom Standpunkt des Laya-Yoga ist sie für das Verständnis sehr wichtig und wird in der Praxis der Selbsterkenntnis genutzt.


Theorie der plötzlichen Erschaffung des Universums


Was besagt diese Theorie? Sie sieht die Welt und das Universum als Projektionen unseres Bewusstseins. Die Welt ist ein Produkt unseres Verstandes. Das Universum wird in jedem Moment mit jedem Akt des Bewusstseins erschaffen. Schöpfung, Evolution und Zerstörung des Universums als allmählicher Vorgang existieren nicht, all dies ist subjektiv. Das Universum wird in jeden Moment und mit jedem Akt unseres Bewusstseins erschaffen und zerstört. Zeit und Raum sind abgeleitete Projektionen unseres Bewusstseins.



„Ich bin“-Bewusstsein als Quelle des Raumes und der Zeit


Allen Erscheinungen wie Zeit, Raum sowie Ursache und Wirkung liegt das Bewusstsein des „Ich bin“ zugrunde. Dieses „Ich bin“-Bewusstsein wird in seiner Tiefe und Fülle erlebt, wenn wir das Ich-Gefühl untersuchen und darin eindringen. Dattatreya sagt im Tripura Rahasya:


Zeit und Raum werden aus dem Bewusstsein projiziert. Das Universum ist nur eine Projektion im Spiegel des Bewusstseins.“


Welche Schlussfolgerungen kann man aus dieser Theorie ziehen? Aus ihr ergeben sich paradoxe Konsequenzen, die in der heutigen Physik den Gipfel der Theoriemodelle darstellen. Zum Beispiel ist heute in der Quantenphysik die Theorie von Hugh Everett sehr populär, die faktisch eine identische Wiederholung des alten vedischen Drishti-Srishti-Vadas darstellt.


Drei Arten der Zeit existieren gleichzeitig


Drishti-Srishti-Vada besagt, dass jedes Objekt sich gleichzeitig in jedem Punkt des Raumes befindet. Zum Beispiel befinden sich Ihr Körper und Sie sich selbst gleichzeitig an einer unendlichen Vielfalt von Raumpunkten. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft stehen in keiner linearen Abfolge. Sie existieren gleichzeitig. Man selbst existiert gleichzeitig genau jetzt in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.


Vergangene, gegenwärtige und zukünftige Zeit kann man sich in Form eine Videocassette vorstellen. Die Gegenwart ist das, was im aktuellen Moment gezeigt wird. Wenn man jedoch die Fähigkeit besitzt, die Wahrnehmung zu verändern und die Kassette zurückspulen kann, kann man den Film zurückdrehen und ihn noch mal anschauen. Man kann ihn auch vorspulen, in die Zukunft. Die Ereignisse gleichen den Bildern auf der Videokassette, sie existieren gleichzeitig. Und wenn man sich von der Sicht dessen, was gerade gezeigt wird, abstrahieren kann, versteht man das Prinzip der Kassette als Einheit.


Das ist so, als würde ein Fahrgast im Zug fahren und aus dem Fenster vorbeiflitzende Bäume sehen. Aber wenn dieser Fahrgast seinen Kopf aus dem Fenster lehnt, sieht er Bäume. Einige Bäume waren in der Vergangenheit und andere sind solche, die in der Zukunft auf ihn zukommen werden. Er nimmt ein Gesamtbild des Waldes wahr. Er sieht, dass dies ein einheitlicher, massiver Raum ist. Und dass die Gegenwart nur das ist, was innerhalb des Rahmens des kleinen Fensters vorbeiflitzt.


So besagt Drishti-Srishti-Vada, dass Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichzeitig in einem Moment vorhanden sind. Und dass auch wir im selben Moment in der Vergangenheit, in der Gegenwart und in der Zukunft existieren.


Vom Standpunkt dieser Ansicht aus ist die Zukunft nicht eindeutig. Wir können sie selbst projizieren. Wir können sie vollkommen steuern. Noch paradoxer als dies ist die Tatsache, dass die Vergangenheit ebenfalls nicht eindeutig ist. Wir können unsere Vergangenheit verändern, weil Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Projektionen unseres Bewusstseins sind. Wenn wir den Spiegel unseres Bewusstseins erreichen, können wir sowohl unsere eigene Biographie als auch die Geschichte selbst in der Vergangenheit ändern. Zeit und Raum sind ebenfalls Projektion des ursprünglichen Bewusstseins.


Der Raum des äußeren, sichtbaren Universums ist Produkt unseres Bewusstseins. Das Universum existiert nicht getrennt von unserem „Ich“. Es erweckt nur den Schein, ein von unserem „Ich“ unabhängiges „etwas“ zu sein.“


Dattatreya formuliert dies in „Tripura Rahasya“ wie folgt: „Zeit und Raum existieren gemäß der Ausformung durch die Person, die sie erdenkt“. Wenn man mit einer starken Absicht, mit Willenskraft und mit einer festen Einstellung (Sankalpa) beginnt, Zeit und Raum um sich herum anders wahrzunehmen, dann wird sich das nach einiger Zeit materialisieren.


Mehr zu diesem Thema erfahren in dem Buch „Leben in der Multirealität. Parasattarka Logik“ von Swami Vishnudevananda Giri. Mehr über den Autor auf https://de.advayta.org. Weitere Bücher von Swami Vishnudevananda Giri: „Shakti Yantra. Das Leuchten der kostbaren Geheimnisse“, „Nada und Jyoti Yoga“, „Leben in Gott“, „Ich bin. Spirituelle Alchemie des inneren Universums“, „Laya Yoga“, "Der Pfad der spontanen Erleuchtung", "Kodex eines Meisters", "Spirituelle Alchemie. Der Weg der inneren Askese", "Kundalini Yoga"