Speziell hier im Forum lese ich ständig was vom Ego und wie es uns in die Irre führt und sterben muss und so weiter.
Ich habe irgendwie ein Problem mit dem Thema und möchte hier mal den Versuch eines Austauschs starten.
Ego - Freund oder Feind?
Ich denke das ist keine schwarzweiß-Frage. Wir alle haben ein Ego und ich denke das ist an sich auch völlig in Ordnung. Natürlich ist es wichtig dem Ego nicht blind die Führung zu überlassen, sich groß zu tun, den eigenen "Erfolg" auf dem Rücken anderer aufzubauen etc. Aber... Ist es wirklich schlimm, wenn ich mich von einer Beleidigung verletzt fühle? Ist es wirklich so ein Problem, wenn ich mich ärgere, weil jemand mich nicht versteht? Ist es ein Fehler, mit Leidenschaft für etwas einzustehen, was einem wichtig ist?
Ich lese oft "Reaktion xy ist nur ein Zeichen eines verletzten Egos" und es wird damit vermittelt, dass diese Reaktion unerwünscht oder nicht spirituell ist. Aber mein Gedanke dazu ist, dass ein verletztes Ego wie ein verletzter Körper ist. Natürlich sollte ich mein bestes tun zu heilen, wenn nötig Medikamente zu nehmen oder Physiotherapie zu bekommen. Manches heilt als wäre nie etwas passiert, anderes hinterlässt Narben. Und manchmal bleibt eine alte Verletzung trotz bester Heilung eben doch wetterfühlig und man spürt ein Stechen, wenn Regen naht.
Müssen wir das Ego also "sterben lassen", loslassen, auf andere art zunichte machen? Oder müssen wir das Ego einfach nur auf ein gesundes Maß reduzieren, es reflektiert betrachten und anerkennen, dass wir alle Menschen mit alten und neuen Verletzungen und Narben sind?
Ich trage viel Trauma in mir - mehr als mir bis vor kurzem bewusst war - und ich schäme mich nicht dafür, dass diese Verletzungen nicht völlig verheilt sind. Es ist nicht meine Schuld, dass Menschen in meinem Umfeld (wissentlich oder auch unwissentlich) psychologische Schäden verursacht haben. Ich erkenne genau so an, dass ich anderen Menschen (wissentlich oder unwissentlich) geschadet habe. Ich erkenne an, dass ich zum Teil aus dem Ego reagiere. Aber ich werde mich nicht für meinen Schmerz entschuldigen. Ich habe ein Recht darauf, fehlbar zu sein, so wie jeder andere Mensch auch.
Spiritualität heißt auch, Menschen in ihrer Fehlbarkeit anzuerkennen. Und ich wünschte mir, wir würden auch die Fehlbarkeit der Spiritualität anerkennen. Zu sagen, dass man das Ego ablegen muss, dass man alles an sich abprallen lassen sollte, weil ja eh nur das verletzte Ego reagiert, das ist in meinen Augen nicht der Weg. Das würde bedeuten dass wir keine Narben und keine Schmerzen in uns tragen dürfen. Ich denke, das ist uns als Mensch nicht möglich. Und ist Perfektion wirklich ein erstrebenswertes Ziel? Heißt spirituelles Erwachen wirklich, die Menschlichkeit abzulegen?
Ausnahmsweise möchte ich euch mal ein Buch empfehlen:
Ani Choying Drolma - Ich singe für die Freiheit
Das Buch einer nepalesischen buddhistischen Nonne, die über ihr Leben berichtet, ihre schwierige Kindheit, die Motivation Nonne zu werden und ihre jahrzehntelangen Erfahrungen als Nonne, auf der Suche nach Erleuchtung, auf dem Pfad der Menschlichkeit. Sehr berührend finde ich dabei, wie bedingungslos ehrlich sie über ihre eigene Fehlbarkeit schreibt, über ihre Wutgedanken, ihren Schmerz, ihre Unkonventionalität.
Wenn eine buddhistische Nonne, die seit rund drei Jahrzehnten im Kloster lebt, in manchen Situationen immer noch Wut und Schmerz erleben kann, und dies als Teil ihrer Menschlichkeit anerkennt, kann es dann wirklich so falsch sein?
Hier noch ein Video von Ani Choying Drolma - ich finde ihren Gesang extrem berührend