Lesetipp Licht und Schatten des Neoadvaita

Wenn wir uns auf den Weg des Erwachens begeben, steigen wir in das Spiel der Befreiung ein, in das göttliche Spiel (Lila). Es ist jedoch zu wenig, an einem solchen Spiel nur teilzunehmen, man sollte auch gewinnen. Wir werden keine Befreiung erlangen, indem wir einfach nur religiös oder spirituell sind. Wir werden auch nicht zum Befreiten, indem wir uns zu irgendeiner Schule zählen und zum Beispiel sagen: „Ich bin Advaitin. Aham Brahmasmi (ich bin Brahman, das Absolute). Ich bin sehr zufrieden damit.“


Das bedeutet nur, das man in ein bestimmtes Spiel eingestiegen ist, aber man muss erst einmal auch gewinnen. Auch für dieses Spiel gibt es Regeln: Für bestimmte Handlungen bekommen man sozusagen karmische Pluspunkte, für andere Handlungen werden Punkte abgezogen. Man sollte das Spiel sehr gekonnt führen, so dass sich der Status permanent verbessert und man am Ende den Sieg erreichen kann. Viele verstehen das nicht. Einige sagen: „Wenn ich mich schon in Kontemplation befinde, in subtiler Bewusstheit, welchen Nutzen haben dann noch diese Praktiken, denn alles ist schon non-dual und es gibt niemanden, der etwas erreichen sollte.“ Besonders oft sagen das Menschen, die Neoadvaita lieben. In solchen Fällen kann man antworten: Praktiken zu machen, hat durch aus Sinn, denn wenn jemand die Wahrheit des Advaita nur mit dem Verstand oder vielleicht etwas intuitiv erfasst hat, aber noch einen unruhigen Verstand, einen unentwickelten Willen und ungereinigte Kanäle (im subtilen Körper) hat, dann kann er nicht einfach so zu einem Heiligen werden. So etwas gibt es nicht. Natürlich wäre das sehr wünschenswert, ist aber im Prinzip unmöglich. Advaita auf der Ebene der Sichtweise anzunehmen, ist richtig und auch das einzig Richtige, aber nicht auf der Ebene des Verhaltens. Auf der Ebene des Verhaltens sollte man praktizieren und zwar mit einer nicht gerade geringen Anstrengung.


Dharma, ein ernsthafter spiritueller Weg, ist etwas, das von uns einen hohen Preis verlangt. Einen sehr hohen Preis. Diese Zahlung ist nicht in Geld zu entrichten, sie besteht in uns selbst. Wir müssen unser kleines Ich, unsere Anhaftungen, Hoffnungen und Ängste, Erwartungen, unseren Stolz, Egoismus, alles, was in uns an Kleinlichem, Menschlichem gibt, opfern, um die Wahrheit des Advaita tief in uns zu realisieren.


In der modernen Welt ist das sogenannte Neoadvaita stark in Mode. Das ist das gleiche wie Advaita, nur ist es populär dargelegt. Ohne große Ethik, ohne Selbstdisziplin, ohne tiefe Philosophie. Der lebendige Darshan (Offenbarung des Göttlichen), der tatsächlich das Herz erreicht, ist sehr kostbar, aber dieser Darshan ist kein Ersatz für Selbstdisziplin und Praxis. Er ist eher ein Lichtstrahl, der in uns etwas erwecken sollte, damit wir weitergehen. Viele denken jedoch, dass sie bereits alles auf dem Weg des Neoadvaita bekommen haben und ihr Weg damit zu Ende sei.


Das Advaita der Siddhas ist nicht so. Es besteht in erster Linie aus der Entwicklung der persönlichen Eigenschaften, des Willens und der Selbstdisziplin. Neoadvaita ist einfach nur eine Sichtweise. Das Advaita der Siddhas geht weiter, es sagt, wie man diese Sichtweise in der Ebene der Energie, in Handlungen, im Leben umsetzt, und wie man die nötigen Eigenschaften dazu in sich erzieht.


In der Advaitatradition der Siddhas haben der Wille und die Entwicklung der persönlichen Eigenschaften große Bedeutung; die Sichtweise und Philosophie widersprechen dem Verhalten nicht. Wenn wir eine non-dualistische Sicht haben, müssen wir trotzdem verstehen, an was wir in der relativen Welt noch arbeiten sollen. Und diese Arbeit soll ernst genommen werden. Denn wenn wir uns nicht anstrengen, werden wir keine Resultate erhalten und die Wahrheiten des Advaita können nicht wirklich zu unseren im Inneren gelebten Schätzen werden.


Neoadvaita gibt den Menschen sofort oder zumindest sehr schnell das Gefühl der Leerheit des Ichs. Und das ist ein großer Segen. Das ist das Licht der Wahrheit auf der Verstandesebene. Um die volle Realisation zu erhalten, braucht man aber mehr. Man braucht gereinigte Energien auf allen Ebenen.


Mein Meister, Swami Vishnudevananda Giri, erzählt oft von Schülern, die ihm sagen: „Ich habe verstanden, dass es mich nicht gibt. Das Ich ist leer. Was soll ich nun machen?“ Und dann antwortet er: „Suche weiter, da muss noch etwas sein. Schaue tiefer. Dich gibt es nicht, aber das Absolute ist da. Das Licht, die göttlichen Dimensionen (Lokas) und verschiedene tiefe Lichtebenen (Akashas) sind in dir, suche weiter, bleibe nicht auf halbem Weg stehen.“


Das ist der Weg des klassischen Advaita. Die Erkenntnis der Leerheit des Ichs ist nur der Anfang eines langen Weges hin zum Göttlichen, der nie endet, aber mit der tiefen Erkenntnis der Einheit überhaupt erst richtig beginnt. Und diese Freiheit bezieht sich auch auf alle Ebenen der Energie. Sie umfasst das Loslassen von Konditionierungen, Gewohnheiten, Wertungen, Anhaftungen, Wünschen und auch von der Vorstellung über sich selbst als jemandem, der vom Absoluten getrennt ist. Diese Freiheit gibt das Gefühl einer anderen Dimension des Lebens, in der es kein persönliches Ich gibt, dafür aber Ewigkeit, Unendlichkeit, Spiel, Begeisterung, Reinheit und das Entzücken über die Unfassbarkeit der Schöpfung. Das persönliche Ich hört auf zu existieren und das universelle Ich wird als Durchdringen und Annehmen von allem im Licht der leeren Klarheit und Glückseligkeit empfunden.


Mehr zu diesem Thema finden Sie unter www.de.advayta.org

und in den Büchern von Swami Vishnudevananda Giri :

„Ich bin. Die spirituelle Alchemie des inneren Universums“,

"Leben in Gott. Autobiographie einer Jnanis“,

„Kodex eines Meisters. Der Weg der Vollkommenheit“,

"Laya Yoga - das Leuchten der kostbaren Geheimnisse"