Lesetipp Spirituelle Alchemie - der Weg der inneren Askese

Viele religiöse Menschen fragen sich, wenn sie von der Advaitalehre hören, zu recht: Wenn ich Brahman, das Absolute bin, warum habe ich dann so viele Beschränkungen? Es ist doch offensichtlich, dass man sich nicht selbst erschaffen hat, zumindest kann man sich nicht daran erinnern. Viele derartige Fragen kommen bei oberflächlicher Betrachtung von Advaita auf. Auf alle diese Fragen gibt es Antworten.

Vereinfacht kann man so differenzieren: Es gibt eine absolute und eine relative Sichtweise. Auf der absoluten Ebene ist alles (wir auch) das Absolute selbst. Auf der relativen Ebene sind wir in erster Linie eine Seele, ein subtiler Astralkörper, der verschiedene feinstoffliche und grobe Formen annehmen kann, zum Beispiel einen physischen Körper. Und solange die Auflösung dieses subtilen Astralkörpers mit allen Karmas, Konditionierungen, Wünschen, Zielen, Anhaftungen, Abneigungen und so weiter noch nicht im klaren Licht der Quelle stattgefunden hat, was im Allgemeinen die Befreiung bedeutet, sollte man sich vor allem um diese relative Ebene unserer Seele kümmern. Und um auf diesem Weg weiterzukommen, brauchen wir eine Beziehung zum Göttlichen, was eben viele religiöse Menschen, die nicht den Weg des Advaita gehen, zurecht beim Neoadvaita vermissen. Solange man sich als eine Seele fühlt, als eine Individualität, braucht man eine duale Beziehung zu Gott, die in Verehrung, Liebe, Dankbarkeit und Hingabe an das Absolute zum Ausdruck kommen sollte.


Hat ein spiritueller Suchende die Wahrheit der Nondualität und der Einheit mit dem Göttlichen mental verstanden, dann beginnt sein Weg erst wirklich. Denn das mentale Verstehen ersetzt nicht das Sein in dem Zustand, über den die realisierten Yogis sprechen. Vor jedem spirituell Suchenden liegt ein langer Weg der inneren Askese, in dessen Verlauf er sein kleines Ego-Ich immer mehr transformiert und reinigt.


Dieser Weg ist am besten und am schnellsten durch Bhaktiyoga, das Yoga der Hingabe an Gott, zu gehen. Aber eben nicht nur und unbedingt in dem Bewusstsein einer streng dualistischen Hingabe, wie dies im Theismus normalerweise geschieht. Man kann die Hingabe auch im Zustand der inneren Einheit empfinden. Dann könnte der Weg von Anfang an mystischer und tiefer gegangen werden.


Der Begriff „Gott“ kann durch die Begriffe des Brahmans im Vedanta, der Natur des Geistes im Dzogchen und im tantrischen Buddhismus und des Taos im Taoismus ersetzt werden. Ebenso könnte man darunter eine mehr persönliche Gottheit verstehen wie Krishna oder Shiva oder die christliche Trinität.


Wenn das Bewusstsein eines Menschen es aber für sich selbst als angebracht betrachtet, Verehrung doch dualistisch zu praktizierten, innerlich oder äußerlich, dann ist dies keineswegs falsch. Es kann sogar völlig richtig sein, denn jeder Mensch ist genauso einzigartig wie sein Weg zum Göttlichen. Die Erfahrung des Absoluten wird sich in Laufe der Zeit noch unendlich oft verändern, so wie sich auch unser menschliches Bewusstsein permanent verändert.


Ist aber – wie auch immer – ein ständiges Bewusstsein des Göttlichen, eine subtile Bewusstheit jenseits von Namen und Formen sowohl im Wachzustand als auch im Traumschlaf erreicht, dann kann man von einer wirklichen Transformation und einer erfolgreichen spirituellen Alchemie sprechen.


All dies ist nur möglich, wenn man die Prinzipien der inneren spirituellen Askese kennt, die Kunst der Abkehr vom menschlichen Ich für die Erfahrung des Göttlichen. Vollkommenheit auf diesem Weg führt zur Hingabe an das Höchste, dessen Barmherzigkeit grenzenlos und immer bereit ist, sich im Leben dessen zu manifestieren, der sich dem Absoluten verschrieben hat.


In der Sanatana-Dharma-Tradition gibt es (wie im buddhistischen Tantra) vier sogenannte Padas oder Stufen des fortschreitenden Bewusstseins zur Verwirklichung des Göttlichen, nämlich Charya, Kriya, Yoga und Anuttara-Yoga.


Die Charya-Phase ist die Zeit, in der ein spiritueller Sucher die Bedeutung des spirituellen Weges erkennt, den Kontakt zu einem spirituellen Meister sucht, Tempel besucht, der auserwählten Gottheit Opfergaben darbringt, ein rechtschaffenes Leben führt und seine Beziehung zu Gott wie die zu seinem Herrn und sich selbst als dessen Diener empfindet. Dies ist eine sehr wichtige Stufe in der Entwicklung der Seele und kann nicht übersprungen werden, obwohl sie nicht unbedingt in diesem Leben gegangen werden muss. Viele Seelen haben sie schon früher, in vergangenen Inkarnationen abgeschlossen und beginnen ihre spirituelle Entwicklung schon mit den Folgephasen.


Kriya impliziert bereits eine engere Beziehung zur auserwählten Gottheit. Der Suchende fühlt die Segnungen, die ihm als Ergebnis seiner Anbetung zuteilwerden, und fühlt seine Gottheit näher bei sich und verehrt sie in der mentalen Stimmung (Bhava) eines Freundes.


In der Yoga-Phase vertieft sich die Beziehung mit dem göttlichen Bewusstsein. Während ein Mensch auf den Stufen von Charya und Kriya hauptsächlich eine äußerliche Verehrung des Göttlichen praktiziert, erfolgt dies auf der Stufe von Yoga-Pada bereits viel innerlicher. Der Yogi sucht das Objekt seiner Hingabe nicht nur im Außen, wie es in den ersten Stadien der Fall ist, in denen das Bewusstsein noch eine Stütze für seine Konzentration brauchte, sondern eröffnet das göttliche Bewusstsein in sich selbst. Er meditiert auf das subtile leere Bewusstsein, auf seine eigenen Chakren, auf die subtilen Ebenen der Elemente und des inneren Lichts und nimmt das Göttliche immer mehr im Inneren wahr.


Das kulminierende Pada ist Anuttara-Yoga. Diese Stufe impliziert eine hohe Bewusstseinsebene des Yogis, in der sich der spirituell Praktizierende überall des göttlichen Bewusstseins bewusst ist, und zwar als ein absolut subtiles, leuchtendes Bewusstsein jenseits aller Namen und Formen, das alles durchdringt, auch ihn selbst. Dies ist eine sehr hohe Ebene, die bei weitem nicht jedem und schon gar nicht sofort zugänglich ist.


Hier dazu ein Auszug aus dem Buch „Spirituelle Alchemie - Der Weg der inneren Askese“ von Swami Vishnudevananda Giri:


Spirituelle Alchemie und innere Askese


Den Weg der inneren Askese erkennt man nicht anhand äußerlicher Merkmale, und diejenigen, die ihm folgen, sind selbst für die Weisen schwer einzuschätzen.

Der unsichtbare innere Weg geheimnisvoller Yogis ist eine Kunst. Deswegen halte sie geheim, schätze sie, bewahre sie und beschütze diesen himmlischen Schatz vor den nicht Eingeweihten.

Innere Askese ist die Kunst, bewusst in Gott zu leben.


Im Wald oder in einer Höhle zu leben, zu schweigen, sich lange Haare wachsen zu lassen und zerrissene Kleidung zu tragen oder sogar ohne Kleidung herumzulaufen, auf dem Boden zu schlafen, zu fasten, strenge Gelübde abzulegen und sich durch äußere Askese zu disziplinieren, ist manchmal nützlich für einen heldenhaften Yogi, aber nichts davon führt zur Befreiung aus den Fängen der Illusion und des Traums der Unwissenheit. So ein Leben kann nicht an sich die Ursache für Heiligkeit und Weisheit sein, kann nicht zur Erlangung der Barmherzigkeit Gottes führen und nicht zur Vereinigung mit Gott.


Manchmal leben einsame Eremiten in Wäldern, es gibt auch Menschen, die das ganze Leben lang schweigen, es gibt ganz Arme, die in zerrissener Kleidung und halb verhungert unterwegs sind, aber niemand von ihnen hat allein aufgrund solch eines Lebenswandels die Heiligkeit erlangt. Da sie alle die spirituellen Geheimnisse der inneren Alchemie nicht kennen, leben sie in sich und nicht in Gott, für sich und nicht für Gott, und indem sie sich als sich selbst empfinden und nicht als Gott, sind sie eins lediglich mit sich selbst.


Mitunter erzeugt sich ein Mensch, der diesen Weg äußerer Askese geht, eine Bindung an diese Lebensart, so wie ein weltlicher Mensch sich an das weltliche Leben anhaftet.


Als Yogi sollst du verstehen: Befreiung ist möglich, aber nicht durch die äußere, sondern nur durch die innere Askese. Nur die innere Askese ist echt und führt zu Gott.

Die äußere Askese ist nur eine Zugabe zur inneren und wird für neue, unerfahrene Suchende benutzt, so wie man Rekruten nicht gleich echte Schwerter gibt, sondern erst mal welche aus Holz.


Manchmal lebt jemand als Asket, meditiert, vollzieht Rituale, lebt aber in sich wie ein Unwissender und kennt Gott nicht, weil er den Weg falsch versteht; nur die Hilfe eines wissenden Meisters kann seine Fehler korrigieren.

Wenn ein Yogi in sich selbst lebt, vertieft er sich in verführerische Gedanken und Visionen, magische Kräfte, in die Glückseligkeit, den subtilen Verstand oder die Leerheit, die alle jedoch nicht Gott sind. In jedem Fall gibt er sich fälschlicherweise nicht ganz Gott hin und erkennt Ihn deswegen nicht.


Die innere Askese ist die Ausrichtung des Verstandes auf sich selbst und auf die Selbstuntersuchung sowie das Heraustreten des Geistes in den Zustand des Nicht-Denkens, danach die Entdeckung des großen göttlichen Lichtes – und währenddessen in jeder Sekunde die vollkommene Selbstaufgabe gegenüber Gott und seinem Willen.


Egal wohin du gehst, bringe den Verstand nach innen, damit du einen Zugang zu dem voller Pracht und Herrlichkeit leuchtenden Palast Gottes findest.

Was auch immer du denkst, untersuche den Denkenden, denjenigen der die Gedanken entstehen lässt.

Bleibe bei jeder Tätigkeit außerhalb des Verstandes, um in diesem Zustand das wunderbaren Antlitz Gottes zu sehen.

Suche an jedem Ort das göttliche Licht, erblicke die leuchtenden Augen Gottes, die Millionen von Sonnen gleichen.


Sobald du zumindest ganz kurz das Licht Gottes wahrnehmen kannst, gib dich ihm mit ganzem Herzen hin und sei ihm vollkommen ergeben, bis zur Selbstaufgabe, bis zur Selbstvergessenheit, um das sakrale Herz Gottes zu erkennen, das einen durch seine Größe erschreckt, das unergründlich und jenseitig ist.


Derjenige, der sich dem sakralen Herzen Gottes ergeben kann, stirbt in gewisser Weise und wird neu im Geist geboren.

Er erzeugt in sich den Samen des ewigen Lebens, damit er später, wenn er im Geist geboren wird, nicht mehr stirbt.

Wenn das geschieht, sollen nur Gott und dein Meister darüber wissen. Denn derjenige, der den Weg der inneren Askese geht, demonstriert seinen Weg nicht und hält ihn geheim und bleibt unerkannt.


Nachdem du den unsterblichen Samen des neuen, zukünftigen Lebens empfangen hast und sich das sakrale Herz Gottes für dich geöffnet hat, unbegreiflich und jenseits aller Vorstellungen, trage diesen Keim sehr vorsichtig in dir, so wie eine Mutter ihr Kind in ihrem Körper.


Passe auf ihn auf und bewahre ihn sehr sorgfältig vor den Dieben und Räubern im eigenen Inneren, so wie Menschen einen wertvollen Schatz bewahren, wie göttliche Wesen ein zauberhaftes Gefäß mit dem Nektar der Unsterblichkeit bewahren.

Trage diesen sakralen Samen in dir, bis er vollständig in dir geboren wird, so wie ein im Mutterleib ausgetragenes Kind von der Mutter.

Sei bis zur Geburt vorsichtig und achtsam, als würdest du auf einem Tiger reiten, lehne alle Zerstreuungen ab, ignoriere alles, was deine Ohren, Augen und den Verstand betrüben kann.

Schätze die Frucht des göttlichen Herzens so wie eine Mutter ihr erstes Kind.

Bewache deinen Verstand Tag und Nacht, wie ein Pferd, das Diebe klauen wollen, wie einen wertvollen Diamanten, indem du ihn immer und immer wieder auf das Göttliche ausrichtest, egal ob du sitzt, spazieren gehst, liegst, stehst, arbeitest, isst oder schläfst.


Wenn dieses unsterbliche Kind – die innere Gottheit – in dir Geburt nimmt und die Barmherzigkeit Gottes voller Herrlichkeit und Pracht auf dich niederkommt, wirst du weder am Tag noch in der Nacht schlafen, auch wenn der Körper liegt und sich ausruht.


Dir eröffnet sich in diesem Moment ein neues, wunderbares Leben, an das du früher nicht mal denken oder davon träumen konntest. In dieser Welt wird es dann weder dich noch die Welt mehr geben, sondern nur Gott, und du wirst mit Ihm so eins sein, dass du in den Minuten der Vertiefung keine Trennung mehr spüren wirst.


Dir tut sich ein neues, sakrales, ewiges, geheimes, heiliges, im Geist verborgenes Leben auf, das niemand unter den Menschen kennt, bis zum Rand voll von Segnungen und Geschenken Gottes.


Schlafe nicht in den Träumen des Verstandes, sondern blicke nach innen, stähle deinen Geist im Feuer des göttlichen Lichtes und erschaffe selbst die alchemische Transmutation deiner Seele, indem du vor dem Göttlichen stehst, wie ein Alchemist vor seinem Tiegel.



Mehr zum Thema im Buch „Spirituelle Alchemie. Der Weg der inneren Askese“ von Swami Vishnudevananda Giri, erschienen im Phänomen Verlag, im Handel erhältlich.


Und unter https://de.advayta.org.


Weitere Bücher von Swami Vishnudevananda Giri:

„Laya Yoga – das Leuchten der kostbaren Geheimnisse“

„Kodex eines Meisters. Der Weg der Vollkommenheit“

„Leben in Gott. Autobiographie eines Jnanis“

„ICH BIN. Spirituelle Alchemie des inneren Universums“