Der Atem der Ewigkeit - die Lehre über den Raum


Wir leben in Raum und Zeit, machen uns aber selten Gedanken über diese grundlegenden Kategorien unseres Seins. Dabei sind diese Dimensionen es wert, dass man über sie genauer nachdenkt. Was bedeutet Raum für uns, was hat er mit Bewusstsein zu tun und wie wird er in der alten vedischen Philosophie gesehen?

Dazu ein Auszug aus dem Buch "Laya Yoga - das Leuchten der kostbaren Geheimnisse" von Swami Vishnudevananda Giri:


Drei Arten von Raum


Wenn wir über die Natur manifestierter phänomenaler Objekte sprechen, verwenden wir normalerweise den Begriff der Energie (Shakti). In den Lehren des Shakta-Tantrismus wird die Energie durch die Urmutter aller Schöpfung symbolisiert. Die grundlegende Energie des Seins hat die Natur des Raumes. Der Raum hat keine Unterschiede, er ist grenzenlos und alles durchdringend, er hat kein Zentrum oder Ende, keine kardinalen Punkte, kein oben oder unten. Jedoch wird der Raum in dieser Lehre gewöhnlich in drei Typen eingeteilt.


Raum des Universums


Der Raum außerhalb der manifestierten Objekte (bhut-akash) ist der äußere Raum, der alle manifestierten Phänomene von Samsara enthält. „Bhut-akash“ ist der äußere, umgebende Raum, zum Beispiel der Raum des Kosmos oder der Raum des Universums.


Raum des Geistes


Der innere Raum (chit-akash) ist der Raum der Wahrnehmung, einschließlich des Unterbewusstseins und des Bewusstseins des subtilen Körpers. „Chit-akash“ ist der innere Bewusstseinsraum, alle Gedanken und Emotionen manifestieren sich aus diesem inneren Raum. Sie erscheinen, spielen im Raum des Geistes und verschwinden danach. All dies geschieht untrennbar vom inneren Raum, der die Leere ist.


Raum des Herzens


„Hrid-akash“ ist das Herz, der subtilste und geheimste Raum, unsere ursprüngliche leuchtende Klarheit. „Hrid-akash“ ist der innere leere Raum aller Objekte und des auch Bewusstseins, das sowohl das Bewusstsein aller Lebewesen als auch das Bewusstsein aller äußeren Objekte durchdringt.


Den Krug zerbrechen


Vermischen zweier Räume



Der Atman (das transzendente Bewusstsein) wird als etwas dem Raum ähnliches bezeichnet. So wie der Raum in irgendwelchen Krügen verborgen ist, so ist es der Atman im Körper, er ist verborgen wie der Raum im Krug des Körpers.“


Gaudapada, Mandukya Karika, 3.3



Die Vermischung zweier Räume, die Integration von Subjekt und Objekt, ist der Höhepunkt, der Moment des Erwachens und der vollen Erleuchtung.



So wie der Raum innerhalb eines Gefäßes kein selbständiges Teil des Gesamtraumes ist, so ist die individuelle Seele kein selbständiges Teil des Atmans.“


Gaudapada, Mandukya Karika, 3.7



Beide Räume, der innere und der äußere, existieren in der gleichen Weise, wie es aufgrund der Trennwände einen Raum innerhalb und außerhalb des Gefäßes gibt. Auf die gleiche Weise existieren aufgrund der Mauern unseres dualistischen Geistes zwei Räume, ein innerer und ein äußerer.



Wenn die Krüge zerbrechen, kommt der darin enthaltene Raum zusammen, so wie auch alle individuellen Seelen im reinen Bewusstsein des Atman verschmelzen.“


Gaudapada, Mandukya Karika, 3.4



Ist Bewusstheit da, ohne auszuwählen, und tritt man in eine kontemplative Präsenz ein, kann dies mit dem Zerbrechen eines Krugs verglichen werden. Außen- und Innenräume beginnen sich zu vermischen. Die Vermischung der beiden Räume ist die nächste Phase nach der Wahrnehmung des Impulses des Erwachens von Anugraha (Energie der Barmherzigkeit). Tatsächlich folgen sie untrennbar aufeinander.


Im Laya Yoga wird die Vermischung zweier Räume durch spezielle subtile Techniken erreicht, wie z. B. der Shambhavi Mudra, kombiniert mit den Methoden des Nada Yoga und Jyoti Yoga. Diese Praktiken sind wirklich das Geheimnis der Geheimnisse, die den Yogi in einem Leben zur höchsten Stufe der Verwirklichung führen. Bevor sich die inneren und äußeren Räume vermischen, gibt es für uns Subjekt und Objekt, und wir weisen wie ein Ring eine Außenseite und eine Innenseite auf, die sich niemals überschneiden. Nachdem wir aber die beiden Räume vermischt und die Erleuchtung erreicht haben, verbindet sich das Subjekt paradoxerweise mit dem Objekt, und unser Zustand beginnt, ein wenig einem Möbiusband zu ähneln: Wenn wir anfangen, mit einem Bleistift entlang der Innenseite zu gehen, werden wir nach einer Weile definitiv nach außen gelangen. Wenn wir auf die gleiche Weise mit einem Bleistift entlang der Außenseite zeichnen, befinden wir uns nach einer Weile definitiv auf der Innenseite des Möbiusbandes. Wir leben in einem derartigen paradoxen Zustand, in dem das Subjekt untrennbar mit dem Objekt verbunden ist, weshalb gesagt wird, dass Jnanis die Welt als Teil ihrer selbst sehen.



So wie der Raum in verschiedenen Krügen nicht getrübt wird, wenn einer von ihnen mit Staub oder Rauch gefüllt ist, so wird das gemeinsame Bewusstsein aller Seelen nicht befleckt, auch wenn jemand Freude oder Leid empfindet.“


Gaudapada, Mandukya Karika, 3.5



Dies ist der transzendenteste, unbegreiflichste Zustand, der vom Standpunkt der Dualität unbeschreiblich, unvorstellbar, unfassbar ist; nur wer selbst in diesen paradoxen Zustand eingetreten sind, kann verstehen, von was die Rede ist. Selbst wenn jemand hunderte heiliger Texten kennt und einen höheren Abschluss in Philosophie hat oder hervorragende Leistungen in Yoga-Praktiken oder tantrischen Ritualen erbringt, kann er wie ein gewöhnlicher Mensch blind bleiben, wenn er nicht in diesen paradoxen Zustand eingetreten ist, in dem es kein Subjekt und kein Objekt gibt. Im Gegenteil, ein Yogi, der den Zustand von zwei in einem verwirklicht hat, mag Analphabet sein, die Schriften nicht kennen, Yoga oder tantrische Rituale nicht kennen, und doch ist er der höchste Weise, er ist das Brahman selbst, untrennbar mit dem Absoluten verbundene Realität und wird sogar von den Göttern gepriesen.


Nachdem der äußere und der innere Raum in Geist und Körper eines Yogis vermischt sind, lebt ein solcher Yogi in jedem Lebewesen und fühlt das Bewusstsein jedes Lebewesens als sein eigenes.



Das ursprüngliche Ich, das in allen Körpern wohnt, unterscheidet sich nicht vom Raum.“


Gaudapada, Mandukya Karika, 3.9



Man kann sagen, dass er entlang der Milchstraße wandelt, Sonne und Mond verschluckt und in zehntausend Himmelsrichtungen lebt.



Ich bin unten, ich bin oben, ich bin hinten, ich bin vorne, ich bin rechts, ich bin links, ich bin die ganze Welt. Wahrlich, wer so sieht, so denkt, so erkennt, der wird selbst zum Herrn aller Welten, er kann handeln, wie er will.“


Chandogya Upanishad, 25



Es gibt keinen Unterschied zwischen innen und außen, alles wird als Manifestation eines einzigen Bewusstseins wahrgenommen, daher wird dieser Zustand als „einziger Geschmack“ bezeichnet.



Obwohl sich verschiedene Namen, Formen und Handlungen aufgrund ihrer Gefäße unterscheiden, gibt es für den Raum selbst keinen Unterschied und keine Vielfalt von Seelen.“


Gaudapada, Mandukya Karika, 3.6



Dem Geist die Sütze entziehend, nicht einmal einen Gedanken zulassend, ist der Yogi wie ein Topf, der innen und außen mit Raum gefüllt ist.“


Sri Adi Shankaracharya, Kommentar zur Mandukya Upanishad



Das Bewusstsein ohne Stütze ist der Zustand von Niralamba, der in tiefer kontemplativer Präsenz verwirklicht wird. Dieser Zustand kann auch im Nirvikalpa-Samadhi erlebt werden; er ist jenseits von Verstand und Energie, aber er beinhaltet sowohl Verstand als auch Energie. Der Geist ohne Stütze (Niralamba) wird verwirklicht, wenn innerer und äußerer Raum vermischt werden.



So wie der Raum innerhalb des Gefäßes vollständig mit dem Raum darum verschmilzt, wenn das Gefäß zerbrochen ist, so verschmilzt das getrennte Bewusstsein mit der absoluten Realität.“


Sri Adi Shankaracharya, Kommentar zur Mandukya Upanishad



Aufgrund der Tatsache, dass das Bewusstsein an den Körper als Gefäß gekettet ist, wird der Raum der absoluten Realität in ihm anders gesehen als der Raum der Realität außerhalb. Wenn klar wird, dass der Raum des grenzenlosen Bewusstseins im Inneren derselbe ist wie der Raum außerhalb und dass das Gefäß aus Geist und Körper keine Unterschiede zwischen ihnen schaffen kann, verbleibt der einheitliche Raum des höheren Seins als Wirklichkeit. Dies ist die Zerstörung des Gefäßes, welche die Illusion beseitigt, die mit der Vorstellung von Geist und Körper verbunden ist.“


Das war ein Auszug aus dem Buch „Laya Yoga – das Leuchten der kostbaren Geheimnisse“ von Swami Vishnudevananda Giri. Mehr über die Lehre und die Praktiken im Kapitel „Der Atem der Ewigkeit. Die Lehre über den Raum“


Mehr über den Weg, den Meister und über die Lehre unter https://de.advayta.org


Und in den Büchern von Swami Vishnudevananda Giri:


„Spirituelle Alchemie – der Weg der inneren Askese“


„Leben in Gott. Autobiographie eines Jnanis“


„Kodex eines Meisters. Der Weg der Vollkommenheit“


„ICH BIN. Spirituelle Alchemie des inneren Universums“