Lesetipp Die Suche nach dem ICH

Auszüge aus dem Buch „Der Pfad der spontanen Erleuchtung“ von Swami Vishnudevananda Giri



„Wer bin ich?“


Wenn man zu fragen beginnt: „Was ist dieses Ich in diesem Körper aus Fleisch, Blut, Knochen usw.?“, dann hört die Unwissenheit sofort auf.“


(Yoga Vasishtha, Kap. 6.1.10, „Über die Befreiung“)


Erleuchtung ist eine Erscheinung aus einer anderen Welt, in der das Sein sich noch nicht zur Illusion umgeformt, die Zeit sich noch nicht geteilt und der Raum sich noch zu keiner Dimension reduziert hat. Unwissenheit ist nur in der verfestigten Welt grober materieller Objekte möglich, wenn das Bewusstsein auf die Ideen „Ich bin der Körper“ und „Die Welt existiert unabhängig von mir“ fixiert ist.


(„ICH BIN. Spirituelle Alchemie des inneren Universums“)



„Ich bin weder die Freuden noch gehören mir diese an; auch nicht bin ich dieser Intellekt und die Sinnesorgane noch gehören diese mir an, denn sie sind leblos und ich selbst fühlend. Ich bin nicht der Verstand, welcher die Wurzelursache dieses unwissenden Zyklus von Geburt und Tod ist. Ich bin weder die Fähigkeit zur Unterscheidung noch der Ich-Sinn, denn dies sind nur Ideen, die im Verstand auftauchen. Was bleibt dann übrig? Was verbleibt, ist der fühlende Jiva (Seele). Jedoch ist dieser in die Subjekt-Objekt-Beziehung verstrickt. Was das Objekt der Erkenntnis oder des Verstehens ist, ist nicht das Selbst. Daher gebe ich das auf, was gekannt werden kann – das Objekt. Was nun noch verbleibt, ist das reine Bewusstsein frei vom Schatten des Zweifels. Ich bin das unendliche Selbst, denn es gibt keine Schranke für dieses Selbst.“


(Yoga Vasishtha, Kap. 5.59, „Die Geschichte von Suraghu“)




Die Frage „Wer bin ich?“ ist die wichtigste Frage im Leben eines jeden Wesens. Diese Frage ist der Grundstein der Philosophie des Advaita Vedanta. Ohne diese Frage für sich richtig zu beantworten, kann man unmöglich weiterleben, ohne Leid und Verwirrung anzuziehen.


Diese Frage ist identisch mit der Frage „Wer ist Gott?“


Die Antwort auf diese Frage gibt Antworten auf alle anderen Fragen. Das Fehlen einer Antwort auf diese Frage gebiert Millionen anderer, sekundärer Fragen, die uns keine Ruhe schenken, sondern uns zwingen, unbewusst zu handeln und nach Illusionen zu streben.


Die Frage „Wer bin ich?“ bestimmt, womit wir uns identifizieren müssen. Ohne die eigene Selbstidentifikation zu bestimmen, können wir auch den Sinn des Lebens nicht erfassen, und folglich bleiben unser Weltbild, unsere Werte und unsere Ziele genauso unbestimmt und illusorisch.


Unsere Handlungen in einem solchen Zustand des Verstandes bringen uns nichts ein außer Leid, weil sie auf verschwommenen Werten gebaut werden und zu sinnlosen Zielen führen.


Wenn wir uns diese Frage stellen und uns intensiv in sie vertiefen, wird dies Selbsterforschung genannt, Vichara, und Yogis, welche diese Praxis ständig und fleißig ausführen und darin Erfolg haben, werden Jnanis genannt.


Für mich habe ich die Antwort auf diese Frage gefunden dank einer mehr als fünfundzwanzigjährigen spirituellen Praxis des Jnana Yoga und dank der Segnungen meiner Lehrer und Gurus. Diese Praxis war manchmal ziemlich anstrengend, total, alles verschlingend und verbrennend, entlang jeglicher Grenze, verbunden mit innerem Kampf und Drama, manchmal aber auch ruhig, lautlos, voller Stille, asketisch und entsagt; und manchmal leuchtete sie spielerisch in allen Farben in der Fülle des Gewahrseins.


Findet man die Antwort, führt dies zur radikalen Veränderung der Empfindung der Welt, zu einer völligen und unwiderruflichen Veränderung der bisherigen Selbstidentifikation „Ich bin ein Körper, ein Ego usw.“ und zur Entidentifizierung mit der Person, für die man sich gehalten hatte.


Der Ausdruck „ich habe die Antwort gefunden“, trifft in diesem Fall nicht wirklich zu. Die Antwort hat mich gefunden. Sie wartete immer auf mich, sie gab es schon vor meiner Geburt, aber mein Verstand erfasste sie nicht, weil er schlief, vertieft in seine Illusionen.


Mein Ego-Ich hat die Antwort schon gar nicht gefunden, denn es ist einfach verschwunden, im Laufe des Prozesses der Suche und Selbsterforschung. Das Verschwinden des Egos führte zum Erscheinen einer völlig anderen Ebene des Wissens und einer anderen Schicht der Bewusstheit.


Natur der Geistes


Diese Schicht nennt man den natürlichen Zustand, Sahaja, Natur des Geistes, Wesen des Absoluten, Brahma-Tattva, ursprüngliches Bewusstsein, Leerheit (Shunya), selbstgeborene Weisheit.


Ich habe „mich“ verloren, mein altes Ich, und dafür etwas gefunden, was unbeschreiblich ist, nicht auszudrücken, grenzenlos, eigenschaftslos, unbestimmbar, nicht adäquat, einen in keinen Rahmen passenden Zustand von Sein, Bewusstsein und Glückseligkeit.


Einen Sadhu (Yogi), der dieses Bewusstsein in sich selbst entdeckt und ständig in ihm vertieft ist, bezeichnet man in der vedischen Tradition als „Wissenden“ (Jnani), als erleuchtet. Diese Erleuchtung ist nicht, wie viele denken, das Ende eines spirituellen Weges, sondern erst der wirkliche Anfang, aber man kann sicher sagen, dass sie das Ende der Unwissenheit bedeutet, das Ende der falschen Sichtweisen und der Ursachen neuer Geburten, Leiden und Illusionen, die aus dieser Unwissenheit herrühren.


Wer bin ich?


Wer bin Ich? –


Und nichts bleibt beim Alten.


Wer bin Ich? –


Und diese armselige Welt,


sie zittert wie Blätter im kalten Herbstwind.


Wer bin Ich? –


Und der Verstand,


der leidet, hasst und dürstet,


tritt verwirrt einen Schritt zurück.


Wer bin Ich? –


Und die Zauberei löst sich auf,


die Illusion verschwindet,


die mich tausend Äonen lang festhielt.


Wer bin Ich? –


Und man braucht keine Bücher mehr,


keine Philosophien und Doktrinen.


Wer bin Ich? –


Und die Welt verschwindet,


wie eine Wolke, ein Traum der Nacht.


Wer bin Ich? –


Und die universelle Unendlichkeit,


sie öffnet ihre kosmische Kälte.


Wer bin Ich? –


Und die Zeit hat keine Macht mehr über dich.


Wer bin Ich? –


Und du bist das Zentrum der Welt,


in der nichts real ist,


deren Realität du selbst bist!


Ich bin,


auch wenn es keine Gedanken und Gefühle mehr gibt.


Ich bin,


auch jenseits des Körpers,


der Freude und des Schmerzes.


Ich bin,


dort, wo niemand geboren ist,


wo selbst Götter vor Ehrfurcht schweigen.


Ich bin das.

Ich bin DAS


Richte das Citta (Bewusstsein) nach innen, ins Herz des Ich, verbinde es damit (mit diesem Gefühl). Nachdem du es so verbunden hast, löse es restlos auf. Werde zu dem, was du bist und was du immer warst – einer ohne einen zweiten, höchster Herrscher, Param Shiva, der nicht unter der Herrschaft der Zeit steht“.


(„Yoga Sadhana Hridaya Sutra“, 101)




Mehr zu diesem Thema in dem Buch "Der Pfad der spontanen Erleuchtung. Tradition der Siddhas" von Swami Vishnudevananda Giri und in seinen weiteren Büchern "Laya Yoga". "Nada und Jyoti Yoga", "Leben in der Multirealität", "Leben in Gott", "Kodex eines Meisters", "Spirituelle Alchemie", "Shakti Yantra"

Mehr über den Meister und die Lehre auf http://www.de.advayta.org