Die Weisheit und die Methode

Auszug aus dem Buch „Der Pfad der spontanen Erleuchtung“ von Swami Vishnudevananda Giri


Die Weisheit und die Methode


Traditionell verwendet man in verschiedenen Lehren zwei Schlüsselbegriffe: Weisheit und Methode. Der Begriff Weisheit umfasst alle Lehren und Belehrungen, die auf die absolute und nonduale Wahrheit hindeuten. Methoden sind Mittel der relativen Wirklichkeit, die es ermöglichen, die absolute Wahrheit offenzulegen und innerlich zu realisieren.


Die Advaitalehre sagt, dass es nur ein einheitliches absolutes Bewusstsein gibt, das ALLES ist und es nichts gibt, was es nicht ist. Es gleicht dem unendlichen Raum, es ist unbegreiflich, unendlich, ursprünglich rein, alldurchdringend und spontan vollkommen. Es ist unerschütterlich, unbefleckt, allgegenwärtig, unveränderlich und ohne Stütze. Es ist die lichtvolle Leerheit, welche die Fähigkeit zur Emanation hat und aus sich heraus eine unendliche Anzahl an Universen ausstrahlt. Die Heiligen sagen, dass wir dieses absolute Bewusstsein sind, und sie rufen uns dazu auf, seine innere Natur zu erforschen.


Es existieren verschiedene Wege, die zur Realisation des nondualen Bewusstseins führen. Insgesamt können sie in zwei Kategorien aufgeteilt werden: allmähliche und spontane. Der allmähliche Weg ist mit einer kontinuierlichen Anstrengung verbunden, mit der Anwendung der Methoden der Konzentration, Meditation, Energiesteuerung usw. Der spontane Weg führt über die anstrengungslose Selbsthingabe gegenüber dem absoluten Selbst.


Im Advaita der Siddha-Tradition sind diese zwei Wege miteinander verbunden. Obwohl die höchste Sichtweise in Bezug auf die subtile Bewusstheit und die Selbsttranszendierung schon in den ersten Lehrphasen übertragen wird, werden relative Methoden nicht abgelehnt, sondern werden, ohne dabei Abstriche von der höchsten Sichtweise zu machen, zur Reinigung von Eintrübungen des Geistes genutzt.


Methoden der Siddhas


Die Methoden der Siddhas sind keine Methoden, die von den Menschen stammen. Sie tragen ein Wissen in sich, das als göttliche Offenbarung erhalten wurde. Diese Methoden sind Geschenke mächtiger Wesen, die jenseits aller Begrenzungen sind und sich im Zustand völliger Freiheit befinden.


Sie sind deswegen so wertvoll, weil sie den Schüler schließlich jenseits der Methode in den ursprünglichen Zustand der Reinheit führen, wo Weisheit und Methode eins werden.


Die Methoden sind durch die Zeit geprüft, weil sie Jahrtausende lang genutzt wurden und zur Befreiung vieler Wesen geführt haben. Das bedeutet, dass jeder ein gutes Ergebnis erhalten kann, wenn er dem Weg der Siddhas folgt. In dieser Tradition haben viele Heilige nicht nur Erleuchtung und Befreiung erreicht, sondern auch einen Regenbogenkörper und schafften damit den „großen Übergang“ (Kaya Vyuha).


Das Wichtigste ist immer an das Wichtigste zu denken


Alle Methoden werden angewandt auf dem Hintergrund der Vertiefung in den natürlichen Zustand und in die subtile Bewusstheit. Für die Praktiker des Advaita der Siddhas ist das besonders wichtig, weil in unserer Lehre jede Methode immer auf dem Hintergrund dieses Bewusstseins praktiziert wird.


Weisheit als Grundlage der Methode


Wenn wir dem Verstand nicht erlauben, sich an etwas festzuhalten, sich auf etwas zu fokussieren, wenn wir uns in einem Zustand ohne Stütze befinden, weit wie der Himmel, dessen Grenzen unendlich und das Zentrum überall sind, wenn unsere Wahrnehmung wie so eine Sphäre ist und sich frei in alle Richtung erweitert, dann sagt man, dass wir in dem natürlichen Zustand sind, in einer subtilen leeren und lichtvollen Bewusstheit.


Sich in einem stützlosen Zustand zu befinden bedeutet nicht, dass wir keine Praxis der Konzentration machen oder keine anderen Methoden anwenden, die Konzentration erfordern. Und hier ist es wichtig zu verstehen, was das Wichtigste in der Lehre ist und was sekundär, zusätzlich, was die Weisheit ist und was die Methode. Die Weisheit ist das Sein in dem natürlichen Zustand. Und wenn die Rede über die Weisheit ist, wenn der Schüler nach den Anweisungen bezüglich des Seins fragt, wenn er nach dem Darshan der Weisheit fragt, dann antwortet der Lehrer, dass es keine Konzentration, keine Chakras, keine Sankalpas (mentale Einstellungen) und so weiter sein müssen, dass man das alles wegtun und in einem bedingungslosen Zustand sein soll, den Verstand offen halten und auf sich selbst stützend haben soll. Das ist die Sicht.


Denn jegliche Fixierung des Verstandes, jegliche Konzentration, jegliche Färbung von was auch immer ist eine Begrenzung und sie ist das Gefängnis für das Bewusstsein. Die Aufgabe besteht darin, den Verstand in die wirkliche Freiheit zu entlassen. Keine Doktrinen, keine Theorien, keine Konzepte – all das soll weggeworfen werden, weil das reine Spiegel des Bewusstseins von allem frei ist.


Wenn wir aber über die relative Dimension reden, über die Praxis der Methode, sagen wir, dass Sankalpas (mentale Einstellungen) sehr gut sind, dass Arbeit mit Chakren und inneren Kanälen wichtig ist, genauso wie die Philosophie.


Die Weisheit ist der Hintergrund, auf dem sich unsere Praxis entwickelt. Das ist der Zustand, den wir anstreben und den wir zur Grundlage machen, zum Wichtigsten und die Methoden sind der Zusatz, die Hilfen, die es erlauben, die Weisheit frei zu legen. Die Methode ist der Diener der Weisheit und nicht umgekehrt. Die Weisheit ist der König und die Methoden sind Soldaten und Minister, die den Willen des Königs erfüllen und ihm dienen. In diesem Fall ist der König die durch nichts bedingte Natur des Geistes, die auf nichts fixiert ist.


Hier ist wichtig zu verstehen, dass zwischen der Weisheit und der Methode keine Widersprüche gibt, wenn man sie richtig versteht. Wir machen die Betonung darauf, dass man die Weisheit von der Methode erst mal trennen soll, zumindest solange wir den Status eines Mahasiddhas noch nicht erreicht haben.


In vielen Traditionen wird die Weisheit erst mal versteckt und die Betonung liegt auf der Methode (auf einer konkreten rituellen Praxis, Sutra, auf einem Symbol des Glaubens und so weiter) weil angenommen wird, dass irgendwann mit den Jahren, mit der Reinigung des Bewusstseins und mit der Entwicklung der Praxis die Methode die Weisheit von innen erweckt. Aber erstens kann es sehr lange dauern und zweites gilt in unserer Tradition diese Vorgehensweise als nicht ganz ehrlich, wenn man die Wahrheit von den Anfängern zu verstecken versucht. Die höchste Lehre des Anuttara-Tantras geht anders vor – sie nimmt an, dass wenn Sie eine Verbindung zu der Tradition haben, sind Sie dazu grundsätzlich in der Lage, die höchste Weisheit sofort zu erkennen.


Natürlich setzt die Vermittlung der höchsten Weisheit vom Anfang an ein gewisses Risiko voraus, denn der Schüler muss selbst die Verantwortung für sein Schicksaal übernehmen, für sein Verständnis und für seine spirituelle Praxis. Es wird Ihnen viel gegeben mit der Hoffnung und in der Annahme, dass Sie damit richtig umgehen. Man versteckt von Ihnen nichts und nimmt an, dass Sie reif genug sind, das Wissen richtig umzusetzen.


Die Weisheit ist durch nichts bedingt, durch keine Dualität und keine Fixierung. Aber die Menschen halten sich in der Regel in bestimmten Rahmen, in den für sie gewohnten Begrenzungen. Die höchsten Lehren wurden manchmal verboten, besonders im Mittelalter, weil die Herrschenden Angst hatten, dass die Verbreitung der hohen nondualen Lehren den Chaos und Eigenwillen entstehen lassen werden. Und dann würde es schwer sein, die Menschen zu beherrschen, deren Kleshas (negative Eigenschaften) zum Ausdruck kommen, wenn sie die Lehre falsch auffassen werden. Manchmal wurden diese Lehren geheim weitergegeben, auf sehr versteckte Art und Weise. Aber jetzt ist eine andere Zeit und viele Menschen haben die Möglichkeit die Lehren ungehindert kennenzulernen.


Mehr zum Thema im Buch "Der Prad der spontanen Erleuchtung. Tradition der Siddhas" von Swami Vishnudevananda Giri und in seinen Büchern "Laya Yoga", "Leben in der Multirealität", "Nada und Jyoti Yoga", "Shakti Yantra", "Leben in Gott", "Spirituelle Alchemie", "Kodex eines Meisters"

Mehr über den Meister und die Lehre unter http://www.de.advayta.org